Worum geht es?
Spielfilme erzählen Geschichten. Das ist nicht weiter verwunderlich. Wie sieht es aber im dokumentarischen Bereich aus? Welche Rolle spielt Storytelling im Journalismus und in Wissenssendungen? In diesem Modul erfährst du, wie du dokumentarische Stoffe spannend aufbereiten und erzählen kannst.
Du lernst konkret
- Du kennst die wesentlichen Bausteine des journalistischen audiovisuellen Erzählens.
- Du kennst verschiedene Dramaturgiekonzepte und Spannungsformen im Bildungs-TV.
- Du kannst ein Thema und/oder eine Fragestellung dramaturgisch aufbereiten und einen roten Faden spannen.
- Du wählst für dein Thema und deine Fragestellung ein geeignetes Dramaturgiekonzept aus und entwickelst es weiter.
Hintergrundinfos
01 Bausteine des Erzählens (Mikro-Ebene)
Zuerst schauen wir uns die Bausteine des filmischen Erzählens auf der Mikroebene an. Du hast in Take 4 bereits gelernt, dass Handlungen mit der Five-Shot-Technik filmisch aufgelöst werden können, so dass die Zuschauer*innen verstehen, was sie sehen. Das reicht aber noch nicht aus. Welche Bausteine es noch braucht, sehen wir in diesem Videobeispiel. Bitte schaut euch nur den kurzen Ausschnitt an, der hier verlinkt ist. Achtet auf die Reihenfolge der Einstellungen. Ihr werdet anschliessend gebeten, die Reihenfolge aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren.
Übung
Besuche nun unsere Übungsplattform und rekonstruiere die Sequenz aus dem Gedächtnis. Bringe die Einstellungen in die richtige Reihenfolge.

Jetzt schauen wir uns die einzelnen Bausteine nochmals genau an und überlegen, wofür es sie überhaupt braucht.
Die Bausteine des Erzählens im Überblick
Establishing von Raum und Person


Sobald der Schauplatz gewechselt wird, sollte dies den Zuschauer*innen deutlich gemacht werden. Im Achterbahn-Beispiel gibt es drei Kameraeinstellungen, die das Gelände des Freizeitparks und die Achterbahn zeigen. Dies bezeichnet man als Establishing. Dann erst werden die Protagonisten auf dem Gerüst in Grossaufnahme gezeigt.
Das Establishing ist für eure Beiträge z.B. wichtig, wenn ihr Expert*innen zu Wort kommen lasst. Da sollte man vorher zeigen, wo die Personen arbeiten.
Establishment Spital:
Zum Beispiel ein Spital von aussen (Gebäudefassade), dann von innen (ein Flur, in dem ein Krankenbett geschoben wird) und dann die Ärztin mit weissem Kittel und Stethoskop, die ein Statement abgibt.
Solche einführenden Aufnahmen (Establishing Shots) sind in der Regel inhaltlich nicht sehr kompliziert. Deswegen werden sie häufig mit Fakten aus dem Off unterlegt.
Auch Personen werden visuell eingeführt. Wundert euch also nicht mehr, wenn im Fernsehen ein Experte oder eine Expertin ohne Grund einen Gang entlangläuft. Die Person soll eingeführt werden, bevor sie das Wort ergreift.
O-Tonpassagen


Expert*innen erklären im O-Ton (d.h. die Tonquelle ist im Bild zu sehen), was es mit der gezeigten Sache auf sich hat. Im Achterbahn-Beispiel wird der Ingenieur von Willi befragt. Es kann aber auch sein, dass ein Experte nur ein Statement abgibt und die Frage gar nicht zu hören ist. Für Zuschauer*innen ist es langweilig, wenn sie lange Zeit nur sprechende Köpfe («Talking Heads») sehen. Man kann Talking Heads durch sogenannte «Insert-Aufnahmen» vermeiden.
Insert-Aufnahmen


Insert-Aufnahmen werden über O-Tonpassagen gelegt, wenn die O-Töne länger als 15 Sekunden dauern. Der Ton läuft weiter und statt Talking Heads werden einfach Bilder zeigt, die thematisch zur Ton-Ebene passen. Der Gemüsebauer spricht beispielsweise über die Geräte, die er zum Ernten verwendet – die Insert-Aufnahmen zeigen Rübenernte-Maschinen in Aktion. Wenn die O-Ton-Passagen länger dauern (> 1 Min), kann auch zwischen Talking Heads und Insert-Aufnahmen hin- und hergeschnitten werden.
Zerstreuende Wow-Aufnahmen
Zerstreuende Wow-Aufnahmen werden verwendet, wenn es zuvor etwas komplizierter war und die Zuschauer*innen die Inhalte erst einmal verarbeiten sollen. Diese Aufnahmen sind atmosphärisch, oft mit Bewegung gefilmt – etwas für’s Auge. Hier gibt es meistens keinen Off-Text, sondern eher Musik. Manchmal sind die Schnitte sogar dem Rhythmus der Musik angepasst.
Idealtypischer Ablauf von Erzählbausteinen
Die Grafik zeigt einen idealtypischen Ablauf einer videojournalistischen Sequenz. Die ersten 2-3 Einstellungen etablieren den Raum, danach folgt die Einführung der Person(en). Dies ist häufig mit Informationen aus dem Off unterlegt. Dann folgen O-Tonpassagen eines Experten / einer Expertin. Der «Talking Heads Effekt» wird durch Inserts etwas aufgelockert. Zur Verarbeitung der Infos leiten zerstreuende Aufnahmen ohne weitere Sachinfos aus der Sequenz. In einem Beitrag werden mehrere dieser Sequenzen zusammengefügt.

Knobelaufgabe
Vergleicht die eher kurzen mit den eher langen Einstellungen aus dem Achterbahn-Beitrag auf der Übungsplattform. Was fällt euch auf? Erkennt ihr ein Muster?
Hier findet ihr die Lösung
Zusammenhang zwischen Einstellungsgrösse und Einstellungslänge
Bernward Wember, ein dt. Medienwissenschaftler, hat in den 1980er Jahren etliche Nachrichtenbeiträge im Fernsehen untersucht. Dabei hat er festgestellt, dass nahe Kameraeinstellungen (Nahaufnahmen, Detailaufnahmen) eher kurz gezeigt werden, während weite Kameraeinstellungen (Super-Totale, Totale und Halbtotale) länger gezeigt werden.
Zusammenhang zwischen Bewegung und Einstellungslänge
Wember hat auch bewegte mit unbewegten Kameraeinstellungen verglichen. Hier kam er zum Ergebnis, dass bewegte Aufnahmen (Kamerabewegung oder Objektbewegung oder beides) tendenziell länger gezeigt werden als unbewegte Einstellungen. Und um es auf die Spitze zu treiben: Nahe, unbewegte Einstellungen sind meist sehr kurz und weite, bewegte Einstellungen sehr lang.
Was bedeutet kurz und was lang?
- Sehr kurz: < 1 Sek
- kurz: 1-3 Sek
- lang: 4-10 Sek
- sehr lang: > 10 Sekunden
Warum ist das so?
Wember begründet seine Erkenntnisse wahrnehmungspsychologisch. Er spricht von «Augenkitzel» und meint das Bedürfnis des menschlichen Sinnesapparats nach Bewegungs- und Reizwechsel. Ohne Reizwechsel wendet sich die menschliche Kognition ab und die Aufmerksamkeit wird abgesenkt. Deswegen versuchen TV-Macher*innen sich an wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen zu orientieren und das Verhältnis von Bewegung, Grösse und Länge bewusst auszutarieren.
02 Storytelling
In Wissenssendungen für Kinder werden die Inhalte häufig in Geschichten verpackt. Doch was genau ist eigentlich eine Geschichte? Was gehört alles zu einer Geschichte? Was kann man weglassen? Hier findet ihr einige Dinge, die ihr für das Storytelling im Journalismus brauchen könnt.
Anfang – Mitte – Schluss
Ihr haltet das vermutlich für eine Binsenweisheit. Schon in der Schule lernt man, dass eine Geschichte einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss hat. Aber was ist ein Anfang? Was braucht es für die Mitte? Und wie geht ein guter Schluss?
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«Ein Anfang ist, was nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Eine Mitte ist, was sowohl auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Ein Ende ist, was natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise, während nach ihm nichts andres mehr eintritt.»
Aristoteles
Anfang | Mitte | Schluss |
Es passiert etwas Mysteriöses, Unerklärliches. Die Protagonisten spekulieren, was der Grund dafür ist. | Es werden Informationen zu dem Ereignis eingeholt; es kommen verschiedene Sichtweisen zusammen. | Mit dem recherchierten Hintergrundwissen kann das Unerklärliche erklärt werden. |
Eine Person möchte etwas erreichen oder erleben. Ihr fehlen aber die nötigen Mittel. | Die Person macht sich auf den Weg, um sich die Mittel zu beschaffen, sich Wissen anzueignen oder zu trainieren. | Am Ende erreicht die Person ihr Ziel knapp, oder ganz knapp eben nicht. |
Zwischen zwei Protagonisten entsteht ein Konflikt. Keiner gibt dem anderen Recht. | Der Hintergrund des Konflikts wird aufgearbeitet, die Handlung geht weg von der emotionalen zur Sachperspektive. | Am Ende kann der Konflikt gelöst werden. Im Idealfall haben beide Parteien ein bisschen Recht. |
Ein Ereignis steht an. Es ist noch nicht klar, ob alles klappt und funktioniert. | Das Ereignis wird vorbereitet, organisiert. Alle Eventualitäten werden durchgespielt. | Am Ende findet das Ereignis statt und die Spannung steigt, ob alles gut geht. |
Held*innen
Eine Geschichte braucht ein Gesicht. Im englischen Sprachraum heisst es lapidar: «Find a Face». Im Deutschen spricht man von Personifizierung.
Ein Held im Sinne der Dramaturgie ist ein Mensch, der uns emotional in Verbindung bringt mit einem Thema.
Lampert 2020, S. 74
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Wahre Held*innen
Wahre Held*innen sind Personen, die als echte Figuren im Filmbeitrag agieren. Es wird die Geschichte über ihr Leben erzählt. Wie sie Profifussballerin geworden ist. Ob er es als 12jähriger schafft, alleine um die Welt zu segeln. Wie sie alle Kühe im Thurgau am Muh-Sound erkennen kann. Wahre Held*innen sind die beste Wahl für einen Beitrag, weil sie sehr authentisch agieren. Für euren Wissensbeitrag habt ihr – je nach Thema – vermutlich eher kein*e wahre Held*in.
Künstliche Held*innen
Künstliche Held*innen sind Personen, die gecastet werden, um ein bestimmtes Thema als Geschichte zu erzählen. Die Person hat dann ihre eigene Sichtweise auf das Thema, steht für das Thema und gibt dem Thema eine Stimmung oder Haltung. Künstlich ist die Heldenfigur deswegen, weil es nicht um die Person, sondern um das Thema geht. Sie ist also Mittel zum Zweck.
Wichtig für die Auswahl einer Held*innenfigur: Sie muss…
- mit dem Thema eng in Verbindung stehen.
- eine bestimmte Motivation / ein Ziel haben, das sie erreichen möchte.
- die Zielgruppe emotional ansprechen.
- eine Entwicklung durchmachen.
- …
In jeder Story kann es eigentlich nur eine Figur geben, aus der die Geschichte erzählt wird. Alle anderen Figuren sind Nebenfiguren, z.B. Expert*innen, die zu Wort kommen, Gegenspieler, die andere Interessen verfolgen, so dass sich Konflikte ergeben o.ä.
Story und Plot
Spannung im Journalismus ist natürlich anders als Spannung im Spielfilm. Gleichwohl gibt es in beiden Fällen eine Story und einen Plot. Der Plot ist die Art und Weise, wie die Story erzählt wird. Man kann dies chronologisch tun, dann wird die Story in der gleichen Reihenfolge erzählt, wie sie passiert ist. Oder man gestaltet den Plot so, dass zuerst das Ende erzählt wird, dann zum Anfang (2 Wochen vorher) zurückgesprungen wird, bis schrittweise klar wird, wie es zum Ende kam. Der Plot kann also mit Auslassungen, Vorgriffen, Rückblenden, Zeitdehnungen oder Zeitraffungen arbeiten.
Dramaturgische Form
Episodenstruktur
Es werden einfach verschiedene, voneinander unabhängige Szenen aneinander gesetzt. Wichtig ist aber, dass ein thematischer Zusammenhang besteht.
Beispiel: Singen ist gut für die Gesundheit / Singen verlängert das Leben
Heldin Tara fragt sich, ob Singen wirklich das Leben verlängert. Dann erlebt sie verschiedene Szenen, die die These unterstützen (eine alte Frau singt; ein trauriges Mädchen singt ein Lied und ist plötzlich glücklich). Die fachlichen Informationen kommen dann im Off-Text parallel zu den Szenen.
Parallelstruktur
Man trennt die Handlungsebene des Helden / der Heldin von der inhaltlichen Ebene und lässt beide Ebenen abwechseln.
Beispiel: Saisonales Wintergemüse
Handlungsebene: Jo möchte nachhaltige Erdbeeren essen, im Winter gibt es aber keine aus der Region. Er ist frustriert, weil er findet, dass es im Winter einfach keine leckeren saisonalen Erzeugnisse gibt. Inhaltsebene: Landwirte, die Wintergemüse anbauen, Nachhaltigkeitexpert*innen kommen zu Wort und erklären, warum es wichtig ist, saisonal zu essen, Rezepte, was man alles aus Wintererzeugnissen machen kann.
Heldenreise
Die Heldenreise ist eine klassische dramaturgische Form. Eine Heldfigur hat ein bestimmtes Ziel. Um es zu erreichen muss sie sich auf den Weg ins Abenteuer machen. Dort erlebt sie verschiedene Abenteuer, muss sich beweisen, sich durchsetzen, sich entwickeln, sich auf den Kampf vorbereiten. Am Ende erreicht sie ihr Ziel, kehrt zurück und wird als Held*in gefeiert.
Rahmengeschichte
Die Rahmengeschichte umrahmt den Inhalt bzw. die Auseinandersetzung mit Thema und Fragestellung. Es gibt meistens eine Szene zu Beginn, aus der sich die Problemstellung entwickelt. Dann wird der Inhalt erarbeitet, z.B mit Erklärstücken, Expert*innenstatements, Realaufnahmen; am Ende kommt der Beitrag wieder auf die Ausgangsgeschichte zurück und das Problem wird vor dem Hintergrund des inhaltlichen Auseinandersetzung gelöst.
Beispiel: Schwindelgefühl beim Karussell
Ein Kind und ein Erwachsener fahren Karussell auf einem Spielplatz. Die Erwachsene kann anschliessend kaum noch laufen und fällt um, das Kind wird etwas besser mit der Situation fertig. Daraus entsteht die Frage, woher der Schwindel kommt und warum manche Menschen stärker betroffen sind als andere. Dann kommt die inhaltliche Auseinandersetzung. Am Ende führt der Beitrag die Zuschauer*innen zurück zur Rahmenhandlung, beantwortet die Frage oder gibt sogar Ratschläge, was man gegen Drehschwindel tun kann.
Aufgabe
Überlegt euch, wie ihr Storytelling in euren Beitrag einbauen könnt. Überlegt euch, welche Erzählbausteine ihr braucht.
Ressourcen und Links
Storytelling, was ist das? (Eine Zusammenstellung der Journalistin Marie Lampert)
Last modified: 25. November 2021